Interview zu selbstverletzendem Verhalten

Interview zu selbstverletzendem Verhalten

Wir haben mit Antje Kaufmann von der Website www.rotetraenen.de über SVV, die Ursachen und mögliche Wege heraus gesprochen. Hier kannst du das ausführliche Interview nachlesen.

interview-svv-quer© iStock

In den Medien wird es ja manchmal so dargestellt, dass Ritzen in der Pubertät nicht so ernst zu nehmen ist, da es eine Phase sein kann, die vorbei geht. Kann man das wirklich so sehen?

Es gibt durchaus vorübergehende Entwicklungsstörungen, die auch in der Pubertät auftreten können, allerdings ist dies eher Nägelkauen, Haaredrehen oder - ausreißen. Wird das Ritzen als hilfreich empfunden, so ist es eher andauernd. Es entwickelt sich meist im Alter zwischen 15 und 24 Jahren (Studie aus dem Jahr 2000, könnte heute eher bei etwas Jüngeren liegen). Bei älteren Frauen ist es wenig bekannt, das kann zwar auch daran liegen, dass sie ihre Probleme bewältigt haben. Es könnte aber auch heißen, dass sie sich eventuell keine Hilfe suchen, oder aber als sie jünger waren, damit schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Grundsätzlich sollte jedes Ritzen ernst genommen werden, es gibt keine Untersuchungen, die besagen, dass es sich „heraus wächst“ und ein Nicht-ernst-nehmen kann eventuell auch zu einer Verschlimmerung führen. Für die Betroffenen ist es wichtig, mit ihren Problemen angenommen und eben auch ernst genommen zu werden!

Es scheint, dass immer mehr Mädchen sich selbst verletzen – wird heute nur mehr darauf geachtet oder ist es sogar schon so etwas wie ein „Trend“?

Als wir 2001 mit rotetraenen.de anfingen, war Selbstverletzung noch ein großes Tabuthema, es gab wenig deutschsprachige Seiten und kaum jemand sprach öffentlich davon. Mittlerweile wird viel darüber berichtet. Dies kann zur Folge haben, dass sich mehr Menschen trauen zuzugeben, dass sie sich selbst verletzen, es kann aber auch dazu führen, dass es mehr „Nachahmungstäter“ gibt, denn es ist durchaus auch ein Gruppenphänomen, gerade in Psychiatrien aber auch im Freundeskreis (Hartmannbund, 1998). Man sollte aber auch bedenken, dass auch jemand, der es „nur“ nachahmt und dann eine vermeintlich positive Wirkung feststellt, ernst genommen werden sollte. Vielleicht hat er es als Problemlösungsstrategie bei Freunden gesehen, es ausprobiert und erfahren, dass es ihm auch eine Zeit lang hilft und schafft es nun nicht mehr andere Lösungen zu finden. Gerade in bestimmten Szenen finden sich vermehrt Selbstverletzungen. Früher waren das Punks, Gothics, Satanisten, heute sind es Emos, aber ich glaube nicht, dass man von einem Trend reden kann, nur weil das öffentliche Interesse größer geworden ist.

Ritzen sich auch Jungs? Und: Warum ist es bei Mädchen häufiger?

Studien gehen von einem Verhältnis von etwa 3-5:1 aus, eine Umfrage von 2002 hat ergeben, dass etwa jeder 10. User von rotetraenen.de männlich ist. Es wird aber davon ausgegangen, dass die Dunkelziffer höher ist. Die Gesellschaft stellt unterschiedliche Erwartungen an Jungen und Mädchen. Während Jungen ihre Aggressionen ausleben dürfen und deswegen eher fremdaggressiv reagieren, sollen Mädchen ihre Aggressionen nicht ausleben, sondern ruhig und angepasst sein. Mädchen richten erste Aggressionen meist gegen die Mutter und aus Angst vor Liebesentzug dann nach innen, sie reagieren dann mit Depressionen oder Autoaggression.

Warum kann man nicht einfach aufhören?

Selbstverletzung hat für den Betroffenen verschiedene Wirkungen, sobald es als Fluchtmittel in einen beruhigenden Zustand dient, entwickelt es auch einen Suchtcharakter. Der Betroffene hat gelernt, was hilft und kann dieses Verhalten nicht einfach wieder ablegen.

Wie schafft man es heraus?

Zuerst einmal muss der Betroffene natürlich wirklich aufhören wollen und auch bereit sein sich helfen zu lassen. Ob hier für eine Therapie notwendig ist, Hilfe im Forum reicht, oder einfach jemand zum Reden gebraucht wird, muss im Einzelfall geschaut werden. Ein Patentrezept gibt es hier leider nicht. Im akuten Fall hilft es vielleicht, wie auch bei anderen Suchterkrankungen, die Selbstverletzung hinaus zu zögern, sich selbst zu sagen „ich kann mich auch in einer Stunde noch verletzen“ und dies immer wieder. Der Zeitabstand kann natürlich individuell gewählt werden. Auf rotetraenen.de haben wir außerdem eine Liste mit Alternativen zusammengestellt. Hier haben uns User angeschrieben und erzählt, was sie „statt dessen“ machen.

Warum verletzt man sich eigentlich selbst?

Selbstverletzendes Verhalten kann natürlich die unterschiedlichsten Ursachen haben. Oft sind es traumatische Erfahrungen im Kindesalter, manchmal eine „Pubertätskrise“. Meist sind Selbstverletzungen nur ein Symptom und man kann dadurch noch nicht auf eine spezielle Krankheit oder Ursache schließen. Fälschlicherweise wird ja oft behauptet, dass jeder der sich ritzt, Borderliner (psychische Erkrankung, Anm. der Redaktion) ist oder anders herum - jeder Borderliner sich ritzt. Dies trifft natürlich nicht zu.

Ob nun ein Betroffener die Ursachen ahnt oder weiß, lässt sich nicht allgemein beantworten. Viele wissen es sicherlich, aber genauso gibt es Menschen, die nicht wissen woher es kommt, oder die denken, dass sie es nur nachgeahmt haben, eigentlich aber auch tiefer liegende Probleme haben, die dazu führen, dass sie nicht einfach wieder aufhören können.

Selbstverletzungen bieten ein Mittel gegen den inneren Druck, haben einen beruhigenden Effekt oder können auch einem Suizid vorbeugen, in dem sie einen Kompromiss zwischen Überlebenswillen und destruktiven Impulsen bieten. Außerdem können sie natürlich auch ein Hilferuf sein. Es gibt somit also eine Vielzahl von Wirkungen und mindestens genauso viele Gründe. Persönlich würde ich denken, dass der überwiegende Teil der Betroffenen weiß, wo die Ursache liegt, aber allein dieses Wissen hilft nicht immer bei der Bewältigung der Probleme.

Kannst du einen Tipp geben, wie ich damit umgehe, wenn ich bemerke, dass sich meine beste Freundin ritzt/selbst verletzt?

Wenn man einer Person so nahe steht, sollte man sie auf jeden Fall darauf ansprechen, Besorgnis äußern und anbieten, darüber zu reden. Dies aber möglichst vor einer Selbstverletzung und nicht während man Wunden versorgt, da sonst die Selbstverletzung zu sehr mit Aufmerksamkeit verbunden wird. Kann man mit dem Betroffenen in beidseitigem Einverständnis reden, könnte man zum Beispiel feste Gesprächszeiten ausmachen um so die Unabhängigkeit von akuten Selbstverletzungen zu wahren.

Allgemein ist sehr viel Geduld nötig. Man kann erst helfen, wenn der Betroffene es selbst will und es hilft keinesfalls Ultimaten zu stellen. Dadurch wird der innere Druck des Betroffenen wieder erhöht und die Enttäuschung ist auf beiden Seiten hoch, wenn die Selbstverletzungen nicht von „jetzt auf gleich“ aufhören.

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