Er ist nicht mehr da. Ich liege in meinem Bett mit seinem Lieblingspullover im Arm, er duftet noch nach ihm. Ich frage mich, wie lang er wohl noch nach ihm riecht. Wird der Duft auch irgendwann vergehen wie sein Atem? Meine Augen starren an die Wand. Dort hängen Fotos von Freunden, von meiner Familie und von ihm. Wie kann er mich einfach so alleine lassen? Ich bin so wütend auf ihn! Ich greife nach dem Kristallherz, das er mir zu meinen letzten Geburtstag geschenkt hat und knalle es gegen die Wand. Es zerspringt in tausend Splitter. Auf einmal tut es mir leid und ich hebe die Stücke auf. Tränen und Blut vermischen sich, aber ich fühle keinen Schmerz.
Ich fühle gar nichts mehr. Dann erwache ich plötzlich aus meiner Trance. Hektisch wische ich mit einem Taschentuch das Blut weg. Es ist 13.20 Uhr. In zwei Stunden ist seine Beerdigung. Ich bringe es nicht übers Herz dorthin zu gehen, zu sehen, wie sie ihn in seinem Sarg in die Erde lassen, dort wo er für immer bleiben muss und ich ihm nicht nah sein kann. Doch wenn ich nicht gehe, werden mich alle für lieblos halten, alle werden denken, ich vermisse ihn nicht – aber ich vermisse ihn so wie keiner hier.
Ich schließe die Augen, ich denke an unsere gemeinsame Zeit und erinnere mich…
Wir lernten uns letzten Sommer ganz romantisch am Strand der Ostsee kennen. Es war Abend und ich ging alleine spazieren. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als ich aus meinen Gedanken gerissen wurde, denn mich schubste jemand zu Boden. „Blödmann!“, rief ich. Ein Junge kniete sich neben mich. Er sah bezaubernd aus und blickte mich neugierig an. „Tut mir wirklich leid, aber ich konnte nicht mehr bremsen. Ist mit dir alles okay!?“
„Ja geht schon.“ Ich rieb mir mein Knie.
„Kann ich dich zur Wiedergutmachung auf eine Cola einladen?“
„Ich weiß nicht...“
„Ach komm schon, ich beiß schon nicht!“
Ich konnte diesen Augen einfach nicht widerstehen. „Na gut, aber ich hab nicht so viel Zeit.“„ Er strahlte über beide Ohren, hob schnell sein Skatebord auf, nahm meine Hand und zog mich hoch. Wie heißt du?“
„Luna. Und du?“
„Leon. Wir fangen bei mit L an.“ Er grinste und seine Grübchen kamen zum Vorschein.
„Wo kommst du her Leon?“
„Aus Zschopau, das ist in…“
„Sachsen! Hey, ich komm aus Chemnitz!“
„Dann wohnen wir gar nicht so weit auseinander.“
„Stimmt. Und wie lange bleibst du noch hier?“
„Noch ganze zwei Wochen. Meine Freunde und ich haben uns einen Bungalow gemietet.“
„Cool, ich bin mit meiner Family hier und bleib nur noch 1 1/2 Wochen.“
„Wie alt bist du?“
„Sweet sixteen.“
„Hach ja, ich fühle mich mit 18 wie ein alter Sack.“
Wir mussten beide lachen. Ab da waren wir unzertrennlich. Ich lernte seine Kumpels kennen, wir grillten, feierten, spielten Volleyball. Leon und ich redeten über alles. Dann kam der Tag meiner Abreise. Er versprach mir, mich nie zu verlassen und immer bei mir zu bleiben. Er wollte mich gleich nach seiner Ankunft in Sachsen besuchen. Und tatsächlich: Eine Woche später stand er mit einen riesigen Strauß Rosen vor der Tür. Ich wusste, dass wir zusammengehörten. Wir waren ein Paar – ein unzertrennliches Team. Mit ihm hatte ich das schönste Jahr meines Lebens.
Und dann plötzlich war der Traum aus. Ich war gerade mit meinen Freundinnen in der Stadt, als ich den Anruf erhielt, dass Leon im Krankenhaus liegt. Er hatte einen Verkehrsunfall. Ich fuhr gleich ins Krankenhaus. Als ich ankam wurde Leon in den OP-Saal geschoben. Er sah mich an und flüsterte: „Ich liebe dich, vergiss das nicht.“
Ich bekam Gänsehaut und erwiderte: „Du hast versprochen mich nie zu verlassen.“
Dann schloss sich die Tür. Tränen flossen über meine Wangen, doch ich konnte nichts tun. Ich konnte nur warten. Nach zwei Stunden kam ein Arzt durch die Tür, Leons Eltern sprangen von den Wartestühlen auf und fragten, was los sei. Ich sah den Arzt nur traurig den Kopf schütteln. Ich wusste, dass Leon es nicht geschafft hatte. Ich lief einfach weg, immer weiter und weiter. Meine Eltern mussten mich wohl irgendwo an einer Straße aufgegabelt haben.
Ich gehe in unseren Garten, um mich vor der Beerdigung noch einmal zu sammeln. Als ich die Haustür aufmache, sehe ich eine Rose auf unseren Fußabstreicher liegen. Er muss hier gewesen sein! Ich presse sie an mich, renne auf den Hügel hinter unserem Haus und schreie: „Leon! Du wirst dein Versprechen halten, das weiß ich jetzt! Ich liebe dich!“ Ich werde diese Rose als schweigendes Geheimnis behüten. Ich werde ihn nicht vergessen und ich werde stark sein. Es ist wieder Sommer.
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