
Trigger-Warnung: Dieser Artikel handelt von selbstverletzendem Verhalten und kann von manchen Lesern als verstörend empfunden werden
Fast zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass sich Jordan Supple geritzt hat. Heute versteckt sie ihre Narben nicht mehr und steht öffentlich dazu - dennoch hätte sie sich gewünscht, dass sie damals ihre Gefühle jemanden anvertraut hätte, denn dann wäre es vielleicht niemals so weit gekommen. Mit einem Post auf Facebook möchte sie möglichst viele betroffene Teenager erreichen und ihnen die Angst nehmen, über ihre Probleme zu sprechen.
"Achtung für Teenager/junge Erwachsene. Schaut euch dieses Foto an: das ist mein Arm, für den Rest meines Lebens.
Wenn ich im Laden an der Kasse stehe, starrt ihn die Verkäuferin an, wenn ich neue Leute kennen lerne, sehen sie ihn, mein potentieller neuer Chef sieht ihn, meine 4-jährige Nichte fragt mich, warum mein Arm so komisch aussieht... Als heute 24-Jährige, die glücklich durch das Leben geht, wünschte ich, dass ich meinem 13-jährigen Ich mit der Rasierklinge in der Hand sagen könnte, dass sich Dinge bessern und auf jeden Fall besser werden. Meine Mutter hat bitterlich geweint, als sie mich blutend auf dem Badezimmerboden fand, sie hat so oft dabei zugesehen, wenn der Arzt meine Wunden genäht hat … Das Herz meiner Familie zerbrach, wenn ich nicht einmal bei 40 Grad meinen Pullover ausgezogen habe, weil ich meine Arme nicht zeigen konnte. Ich weiß, dass es schwer ist, ein Teenager zu sein , die Schule ist kacke, die Eltern sind langweilig und es fühlt sich an, als würde niemand einen verstehen. Doch es gibt Menschen, die dich verstehen und das Leben kann dir so viel bieten.
Also, lieber Teenager, bitte... wenn du gerade alleine bist und darüber nachdenkst, deinen Körper mit dieser Rasierklinge zu verletzen, erinnere dich daran, dass diese Narben dein Leben lang bleiben, der Schmerz aber nicht. Sprich mit deiner Mutter und deinem Vater, sie werden dich besser verstehen als du glaubst, oder du sprichst mit einem coolen Lehrer darüber. Du bist nie allein."
(Quelle: Facebook / Jordan Supple)
(Foto: Twitter @BuzzFeed)
+ + die Sicht einer Betroffenen + +
Sonja* ist 20 Jahre alt, doch ich habe das unbestimmte Gefühl, dass die junge Frau eigentlich viel älter ist. Verständlich, denn mehr als neun Jahre Ritzen hinterlassen nicht nur Narben auf Seele und Körper, sie machen auch erwachsener. Sonja hat einen langen Weg hinter sich und dennoch hat sie noch nicht ganz mit dem Selbstverletzenden Verhalten abgeschlossen. „Es können immer wieder Situationen auftreten, die ich nicht bewältigen kann“, meint Sonja. Wie es angefangen hat? So ganz genau sagen kann sie es nicht, aber eine Situtation hat sich in ihr Gedächtnis eingeprägt: „Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten und war danach ganz furchtbar traurig und dachte. 'Jetzt bring ich mich um.' Da habe eine Scherbe genommen und wollte mir damit die Pulsadern aufschneiden.“ Sonja hat es nicht getan, aber sie hat sich geschnitten und dabei festgestellt, dass es hilft, die Traurigkeit auszuhalten. Damals war sie 10 oder 11 Jahre alt. Ich frage, wie es sich anfühlt, das Ritzen, das man sich als Außenstehender so schwer vorstellen kann.
Und auch Sonja fällt es schwer, die Gefühle in Worte zu fassen. Dennoch versucht sie es und ich bin beeindruckt, wie sachlich sie über eine so emotionale Sache sprechen kann: „Es kommt auf die Situation an“, meint Sonja. "Meistens ist es schon so, dass man irgendwie einen Druck ablassen will. Manchmal ist es auch so, dass man sich selbst bestrafen möchte. Und meistens ist es wirklich so, dass was man innen hat, nach außen bringen will.“
* Name von der Redaktion geändert

Was bedeutet das Ritzen für mich?
Die Frage, die sich jedem Menschen mit SVV-Erfahrung wohl aufdrängt, ist das „Warum?“. Warum verletzt man sich selbst, fügt sich Narben zu?
Abstrakt kann man das in etwa so beantworten, wie es Antje Kaufmann in unserem Interview zu Selbstverletzendem Verhalten getan hat: „Selbstverletzung hat für den Betroffenen verschiedene Wirkungen, sobald es als Fluchtmittel in einen beruhigenden Zustand dient, entwickelt es auch einen Suchtcharakter. Der Betroffene hat gelernt, was hilft und kann dieses Verhalten nicht einfach wieder ablegen.“
Aber jedes einzelne Schicksal ist anders. Bei Sonja spielte der Körper eine große Rolle. Auf die große Warum-Frage antwortet sie mir: „Ich kann es selber eigentlich auch nur vermuten, aber ich weiß viele Sachen, die auf jeden Fall dazu geführt haben. Die dazu geführt haben, dass ich meinen Körper selber nicht leiden mag. Es hängt damit zusammen, dass ich viel gemobbt wurde. Ich wurde immer als dick bezeichnet, obwohl ich rückblickend eine völlig normale Figur hatte.“ Es habe ihr geholfen, dem Körper Schmerzen zuzufügen. Zu sehen, was man getan hat. Es sei ein bisschen wie den Körper dafür leiden zu lassen, dass er so ist, wie er ist.
Für Mädchen und Jungs, die sich selbst verletzen, ist es sehr schwierig, sich anzuvertrauen. Noch schwieriger wird es, wenn man schon früh auf Ablehnung stößt. Wir mögen es uns kaum vorstellen können, aber Sonja ist genau das passiert, weswegen Betroffene ihr Problem oft geheim halten: Sie wurde dafür gehänselt. „In der 7. oder 8. Klasse habe ich es meiner damals besten Freundin erzählt. Die hat mich auch dann danach richtig gemobbt. Sie hat dann an manchen Stellen Kommentare gebracht, die mich extrem verletzt haben. Wenn irgendwie eine Scherbe auf dem Weg lag, dann sagte sie: 'Ja, weißte ja, was du damit machen kannst.' Also kein Erlebnis, das mich angespornt hat, es anderen anzuvertrauen.“, verrät mir Sonja.

Ritzen ist kein Trend!
Sonjas Eltern und auch ihr Freund haben gelernt, mit der Situation zu leben. Aber besonders für Eltern und Geschwister ist es schwer, die eigene Hilflosigkeit zu ertragen.
Konflikte sind da vorprogrammiert, die auch Sonja am eigenen Leib erfahren hat: „Als meine Mutter es das erste Mal rausgekriegt hat, hat sie mich einfach zum Psychologen geschleppt und ein andermal hat sie mir eine Ohrfeige gegeben und hat gesagt, ich soll ihr unbedingt den Arm zeigen.“ Nur eine von vielen Situationen, in denen sich zeigt, wie schwierig es ist, aus der Sucht herauszufinden. Doch Sonja hat es fast geschafft: Dank ihrer Familie, ihrem Freund und einer guten Freundin. Und so simpel es klingen mag - auch Haustiere können eine Stütze sein: „Dass einfach ein Wesen da war, das zu mir gekommen ist und das ich ein bisschen streicheln konnte. Und das war – das ist schon so eine Kleinigkeit, die einem schon sehr viel weiterhilft“, erzählt Sonja über ihre Katze.
Doch eines stellt Sonja klar: So sehr ihr Umfeld sie unterstützt, im Endeffekt müsse immer der Betroffene selbst den Schritt machen! Nach diesem Entschluss beginnt ein langer Weg: „Wenn man aufhören möchte, dann muss man ja erst mal einen neuen Weg lernen, mit seinen Gefühlen, seinem Schmerz und seiner Wut auch umzugehen. Und das ist ganz schwer. Weil man sich wahrscheinlich jahrelang – bei mir jedenfalls – sich dieses Weges bedient und jetzt eine komplett neue Richtung einzuschlagen ist wirklich sehr schwierig.“ Damit dieser neue Weg erfolgreich endet, müsse man sich immer wieder neue Gründe dafür suchen, es nicht zu tun. Und auch Rückschläge verkraften.
Als ich Sonja frage, wie sie darüber denkt, dass das Ritzen immer mehr zum Trend unter jungen Mädchen wird, reagiert sie fast ein bisschen wütend: „Das finde ich sehr furchtbar, diese Aussage. Als ich das damals gemacht habe, wusste ich gar nicht, dass es so was überhaupt gibt. Also das andere Menschen das auch machen. Und dass es dafür einen Namen gibt, dass es eine Krankheit ist.“ Nur weil es ein paar Mädels gebe, die sich das Ritzen „angewöhnen“, dürfe man noch nicht von einem Trend sprechen. Auch wenn es von vielen Medien so dargestellt werde.
Ich bin beeindruckt von dieser jungen Frau, die so offen am Telefon über ihr Problem spricht. Und ich frage mich, warum sie das macht – obwohl es doch so schwierig ist, sich zu öffnen, noch dazu gegenüber einer fremden Redakteurin. Als ich ihr diese Frage tatsächlich stelle, antwortet Sonja: „Ich möchte gerne auch das Gesicht eines Menschen vertreten, der nicht irgendwie seine Wunden und Narben in der Pause herumzeigt. Denn es ist einfach nur total beschissen, sein Leben lang Narben an Armen und Beinen zu haben. Mir tun wirklich die Mädchen leid, die das machen, um einen Trend nachzlaufen. In ein paar Jahren haben sie immer noch diese Narben. Und dann werden sie sich sehr darüber ärgern!“
Das ausführliche Interview mit Sonja kannst du hier nachlesen: Ritzen ist kein Trend! Interview mit einer Betroffenen.
Infos, Hilfe, Tipps & Links zum Thema Ritzen und Selbstverletzendes Verhalten inklusive des Interviews mit Antje Kaufmann von RoteTraenen.de findest du hier: Ritzen – wenn’s der Seele unter sie Haut geht. Auch in der Mädchen.de-Community findest du Support-Threads rund ums Ritzen.
(Fotos: Fotolia)